Durch die Messung des Probengewichts kann der Entbinderungsgrad mit sehr hoher Reproduzierbarkeit gemessen werden[1]. Die Reproduzierbarkeit beträgt 0,1%. Dies ermöglicht die Erstellung einer aussagekräftigen Datenbasis für die Berechnung der Entbinderungskinetik. Dazu werden am HTL mehrere Entbinderungen mit unterschiedlichen Temperatur-Zeit-Zyklen an den gleichen Grünproben durchgeführt. Aus den Messdaten wird mit einem robusten numerischen Verfahren ein Kinetik-Modell errechnet, das es erlaubt, den Entbinderungsgrad für beliebige Temperatur-Zeit-Zyklen, die im Rahmen des vermessenen Bereichs liegen, vorherzusagen[2]. Mit diesem Kinetik-Modell sind bereits einfache Optimierungen des Entbinderungszyklus möglich. So können Temperatur-Zeit-Zyklen berechnet werden, bei denen die Entbinderungsrate nahezu konstant ist. Dies führt zu geringeren Belastungen der Bauteile als Temperatur-Zeit-Zyklen, mit konstanten Aufheizraten[3]. Die maximale noch sichere Entbinderungsrate wird dann mit entsprechend berechneten Temperatur-Zeit-Zyklen experimentell ermittelt. Dazu werden die Entbinderungen an größeren Proben bzw. kleinen Bauteilen in den TOM-Anlagen durchgeführt, und während der Entbinderung werden auftretende Probenschädigungen in situ registriert. Zur Registrierung von Schädigungen werden am HTL in erster Linie Schall- bzw. Gasemissionsmessungen verwendet, weil diese bereits leichte Schädigungen empfindlich registrieren.
Für genauere Untersuchungen, z.B. zum Hochskalieren auf andere Bauteilgeometrien und zur Berücksichtigung von Effekten im Industrieofen sind jedoch weitere In-situ-Messungen erforderlich. So müssen die endo- bzw. exothermen Effekte bei Pyrolyse bzw. Binderausbrand quantifiziert werden, was am HTL mittels dynamischer Wärmestromkalorimetrie (DSC) in kontrollierter Atmosphäre durchgeführt wird. Die Temperaturleitfähigkeit der Grünteile wird während der Entbinderung mittels Laser-Flash-Verfahren bestimmt. Zusätzlich wird die Permeabilität von Gasen durch die Porenkanäle des Grünkörpers gemessen. Zusammen mit dem Kinetik-Modell werden diese Messdaten in einem gekoppelten Finite-Elemente (FE)-Modell eingesetzt, das am HTL zur Optimierung von Entbinderungsprozessen entwickelt wurde. Mit dem Modell wird die Temperaturverteilung im Grünkörper während der Entbinderung für jeden Zeitschritt berechnet, wobei die Reaktionswärme berücksichtigt wird. Aus der lokalen Temperatur und dem lokal verfügbaren Sauerstoff wird mit dem Kinetik-Modell die lokale Entbinderungsrate berechnet. Die daraus resultierenden Gasphasenreaktionen führen zu Konzentrations- und Druckgradienten, die durch Diffusions- bzw. Strömungsvorgänge in den Porenkanälen abgebaut werden. Auch diese Prozesse werden mittels FE simuliert. Zuletzt werden für den jeweiligen Zeitschritt die aus Temperaturunterschieden und dem Gasüberdruck resultierenden mechanischen Spannungen berechnet. Dann wird die Simulation für den nächsten Zeitschritt wiederholt, bis die Entbinderung abgeschlossen ist. Die Entbinderungsbedingungen werden mit dem FE-Modell variiert, sodass die mechanischen Spannungen im Grünkörper minimal werden. Auf diese Weise können die Entbinderungsbedingungen für einzelne Bauteile gezielt optimiert werden. Entbinderungszyklen können im Vergleich zu empirisch optimierten Zyklen drastisch verkürzt werden.
[1] Raether, F. (Hrsg.): Energieeffizienz bei der Keramikherstellung, ISBN 978-3-8163-0644-3, VDMA-Verlag, Frankfurt, 2013. (Publikation auf Anfrage erhältlich)
[2] Raether, F.: The kinetic field - a versatile tool for prediction and analysis of heating processes, High Temperatures-High Pressures, 42.4, 2013, S. 303-319. (zum Abstract)
[3] Raether, F.; Klimera, A., Herrmann, M., Clasen, R. (Hrsg.):Methods of measurement and strategies for binder removal in ceramics. Special edition of Ceramic Forum international: Thermal process engineering in the ceramics industry, Göller Verlag, Baden Baden, 2008, S. 5-11.